Ein Gespräch mit Dr. Daniel Schmidt, Rki und Prof. Matthias Stoll, Hannover
´The long run` – Hürden für Long-acting ART im Therapiealltag in Deutschland

Die Studie wurde vom Robert Koch-Institut initiiert und durchgeführt. Welches Interesse hat das RKI als deutsche Gesundheitsbehörde an den Verordnungszahlen für bestimmte Medikamente?

Dr. Daniel Schmidt, RKIDr. Daniel Schmidt, RKI

Schmidt: Die Kernaufgaben des RKI sind die Erkennung, Verhütung und Bekämpfung von Krankheiten, insbesondere der Infektionskrankheiten. Zu diesen Aufgaben gehört der generelle gesetzliche Auftrag, wissenschaftliche Erkenntnisse als Basis für gesundheitspolitische Entscheidungen zu erarbeiten.

Unsere Analyse dient der spezifischen Versorgungsforschung im Bereich der ART der HIV-Infektion mit den erst jüngst allgemein verfügbar gewordenen Injectables. Die Beschreibung der Allokation solcher Gesundheitsleistungen in spezifischen Bereichen unseres Gesundheitswesens ist wesentliche Voraussetzung für die inhaltliche Diskussion und zum zielgerichteten Einsatz von Ressourcen sowie für das Erkennen möglicher struktureller Defizite oder Hemmnisse beim Zugang zu innovativen Leistungen. Der Bedarf für solche Analysen ist gerade zum Beginn der Einführung neuer Therapien besonders hoch. Zudem ist eine solche Analyse dann naturgemäß auf zunächst nur wenige neu verfügbare Arzneien und mit einer eindeutig zuzuordnenden Indikation beschränkt und erlaubt damit einen besonders gut überschaubaren Überblick.

Gibt es vergleichbare Daten aus anderen Ländern?

Schmidt: Überraschenderweise nein. Es unterstreicht aber auch zugleich den Wert unserer Analyse, dass u.W. bisher keine vergleichbaren Analysen aus anderen Ländern zur Verordnung von Long-acting ART publiziert sind.

Erfasst wurden die Rezepte, die gesetzlich Versicherte in der Apotheke eingelöst haben. Nicht erfasst wurden Privat-Rezepte. Könnte das Ihr Ergebnis deutlich verändern?

Schmidt: Die Daten dazu wären interessant. Da sie aber fehlen, können wir darüber nur spekulieren. Die Aussage unserer Studie ist aber dennoch wertvoll. Wir rechnen zu den GKV-Versicherten mit rund 87% einen Anteil von ca. 13% hinzu, der sowohl PKV-Versicherte als auch Menschen ohne KV enthält. Der reine Anteil PKV-
Versicherter in Deutschland liegt bei nur ca. 10%, daher würde das Ergebnis für Deutschland in toto sicher nicht vollkommen anders aussehen.

Es wäre sowohl vorstellbar, dass PKV-Versicherte häufiger Injectables verordnet bekommen, weil bei ihnen keine Sorge besteht vor möglichen Regressen einer innovativen neuen Therapie, die teurer ist als die verfügbaren Vergleichstherapien. Andererseits ist anhand von vorliegenden Studien zur Patientenpräferenz für LA-ART auch vorstellbar, dass Versicherte der PKV, die im Schnitt älter sind als die der GKV die Long Actings seltener nachfragen könnten. Wir müssen daher abwarten, ob Daten dazu verfügbar werden. Aufgrund früherer PKV-Übersichten und Veröffentlichungen sind keine erkennbaren Unterschiede in der Therapie von Menschen mit HIV in der GKV oder PKV erkennbar. Es ist daher keine wesentliche Änderung der Gesamtergebnisse und Grundaussagen zu erwarten.

Wie erklären Sie sich die Differenz von 149 weniger Cabotegravir-LA als Rilpivirin-LA Dosen?

Schmidt: Die Abweichung zwischen den beiden zeitgleich zu verabreichenden Injectables ist mit 1% nur gering und belegt damit aus unserer Sicht, dass unsere Datengrundlage tatsächlich recht vollständig ist. Für die Abweichung sind verschiedene Erklärungen denkbar, die aber spekulativ sind, u.a. weil wir Daten nicht – auch nicht verschlüsselt – einzelnen Verordnenden oder Personen zuordnen können.

Möglich wäre, dass bspw. aus logistischen Gründen „fehlende“ CAB-LA Verordnungen über eine Auslandsverordnung abgerechnet und deswegen nicht mit den zugehörigen deutschen PZN- oder ATC-Codes erfasst wurden. Möglich wäre auch, dass bspw. aus Gründen der Verträglichkeitstestung an einzelnen Zentren nach Ende der oralen Lead-In-Phase zunächst nur RPV als LA gespritzt wurde und CAB weiter oral und erst ab der zweiten i.m.-Gabe dann sequenziell auch CAB-LA i.m. appliziert wurde. Auch möglich ist eine frühere oder zusätzliche Gabe des RPV-LA in einigen Fällen, falls ein Grund zur Besorgnis um zu niedrige RPV-Spiegel bestanden haben sollte. Auch kann es bei den zumeist (noch) Papierrezepten durchaus zu Lese- und Speicherfehlern kommen.

Insgesamt werden rund 2% der Personen mit HIV unter ART mit der Spritzentherapie behandelt. Warum hat sich diese Innovation nicht stärker durchgesetzt?

Prof. Matthias Stoll, Hannover

Prof. Matthias Stoll, Hannover


Stoll: Die Entwicklung von LA-Konzepten in der Infektiologie ist ein noch junger Bereich in der klinischen Forschung. Dem im Grunde einfachen und – weil therapievereinfachend und niedrigschwellig – auch einleuchtenden Konzept von LA stehen einige Herausforderungen u.a. in Fragen zu Handhabbarkeit, Arzneimittelsicherheit, möglicher Resistenzentwicklung, Lagerbarkeit, Distributionswegen und Kostenabwägungen gegenüber. Die bisher noch offenen Fragen zu dieser neuen Therapieoption mögen ein Grund für Menschen mit HIV und die Ärzteschaft sein, im Zweifel noch an den schon länger etablierten Optionen der oralen ART festzuhalten. Gründe für den relativ langsamen Anstieg im deutschen Praxisalltag sind daher mutmaßlich vielfältig und überwiegend nicht im engeren Sinne medizinische Gründe. Im Diskussionsteil des Artikels gehen wir stärker auf die einzelnen Aspekte ein, die bei LA zu beachten sind und Herausforderungen darstellen können.

Die Rahmen-Bedingungen für Praxen in Deutschland sind für alle Bundesländern gleich. Auch der Wissensstand der überschaubaren Zahl von HIV-Schwerpunktpraxen dürfte nicht gravierend unterschiedlich sein. Wieso gibt es dennoch eklatante Unterschiede zwischen den Bundesländern?

 -- © AdobeStock

Stoll: Aufgrund der genannten Besonderheiten bei der LA Therapie ist vorstellbar, dass vor allem die spezialisierten Institutionen willens und infra-strukturell dazu in der Lage sind, die Versorgung mit LA zu gewährleisten. Da sich die angebotenen Leistungen erst ab einer gewissen Umsatzschwelle wirtschaftlich rechnen und die LA-Arzneien in Deutschland schon aufgrund einer niedrigen HIV-Prävalenz eher selten nachgefragt werden, ergibt sich eine höhere Zugangsschwelle für die Subgruppe von Menschen mit HIV in Deutschland, die in Regionen mit besonders niedriger HIV-Prävalenz leben.

So könnten sich die gefundenen Abweichungen zwischen dem Anteil der in den einzelnen Ländern lebenden HIV-Therapierten und dort verordneten LA-Therapien erklären. In Bundesländern mit großen urbanen Zentren mit bekannt hoher HIV-Prävalenz und entsprechend höherer Dichte spezialisierter HIV-Behandlungszentren sind LA-Therapien stärker repräsentiert, hingegen in ebenfalls bevölkerungsreichen, jedoch schlechter strukturierten (z.B. ländlichen) Gebieten unterrepräsentiert. Dies ist auch ein starkes Indiz für ein höheres Potenzial an Verschreibungen von LA in Deutschland, vorausgesetzt der Zugang zu dieser Therapie wäre niederschwelliger als bisher.

Welche Rolle darüber hinaus der Hersteller oder Marketing-Effekte spielen, können wir aus den Daten nicht beantworten und war auch nicht Gegenstand unserer Untersuchung.

Könnte der Preis eine Rolle spielen?

Stoll: Die Injectables liegen derzeit nur knapp über dem Durchschnittspreis für häufig eingesetzte ARV-Kombinationstherapien und sind teils sogar preiswerter als gleich mehrere bevorzugt empfohlene orale Fix-Kombinationen, auch solche mit RPV. Wird allerdings ein generisches Regime gewählt, z.B. aus der Festbetragsgruppe mit geboostertem DRV oder EFV und TDF/FTC, ergibt sich eine deutliche Preisdifferenz.

Das Wirtschaftlichkeitsgebot könnte aber wegen eines anderen Aspekts eine gewichtige Rolle spielen, weil der reine Preisvergleich verfügbarer und in Deutschland häufig verschriebener ART-Kombinationen vielleicht zu kurz greift: Die LA-Therapie ist nicht für die Einleitung einer ART zugelassen und folgerichtig auch in den Therapieleitlinien nicht als bevorzugte ART empfohlen. Die Verordnung der LA ist an eine wirksame Vorbehandlung mit einem anderen ART-Regime gebunden. Etwas überspitzt formuliert: Zum Zeitpunkt der Umstellung fehlt also mutmaßlich fast immer ein besonders gewichtiger Grund, denn die Vortherapie ist voll wirksam und nahezu alle verfügbaren ART-Regime sind sehr gut verträglich. Insofern ist zum Zeitpunkt der Therapieumstellung auf eine Therapie ohne besonderen Zusatznutzen immer dann das Wirtschaftlichkeitsgebot zu bedenken, wenn die bisher eingesetzte Kombination einen niedrigeren Preis hat als die Injectables. Genau das trifft für eine ganze Reihe der in Deutschland häufig verschriebenen oralen ART-Kombinationen zu. Wir haben leitlinienkonforme alternative Fix-Kombinationen, die ca. ein Drittel und zusammengesetzte in der Regel generische Regime, die bis zu zwei Drittel günstiger sind. Diesem möglichen Verordnungshemmnis könnte natürlich durch eine Preisanpassung begegnet werden.

Wie sieht der Trend für die Zukunft aus? Der Hersteller bemüht sich ja redlich…

Stoll: Die Zahl der LA-Initiierungen stieg in den ersten vier Monaten bis auf ~100 pro Monat an und fiel bis Mitte 2022 auf ca. die Hälfte zurück. Seitdem ist ein leicht rückläufiger Trend zu beobachten, so dass zum Ende der Beobachtung die Anzahl der LA-Initiierungen bei monatlich rund 30 liegt. Daraus ergibt sich insgesamt eine weitere wenn auch nur leichte Zunahme an LA. Ein plötzlicher signifikanter Anstieg der Verordnungen ist aus unserer Sicht nach der Datenlage jedoch nicht zu erwarten, im Gegenteil, die Tendenz flacht ab. Regelmäßige Folgestudien über den weiteren Verlauf von LA in Deutschland wären unbedingt sinnvoll, ebenso wie Untersuchungen über die möglichen Gründe für die – eigentlich so nicht erwartete – langsame Akzeptanz dieser neuen Therapieform. Eine solche Identifizierung möglicher Barrieren sind der rationalste Ansatz die Behandlungsmöglichkeiten dann in angemessener Form zu erweitern. Ein möglicher Weg wäre die Befragung einer repräsentativen Stichprobe von PLWH, ob und ggf. aus welchen Gründen die Injectables für die Community nicht niederschwellig genug angeboten werden.

Nun gibt es neue Daten, dass auch Personen mit nachweisbarer Viruslast und – sagen wir mal – nicht optimaler Compliance von der LA-ART profitieren. Könnte das zu mehr Einsatz der LA-Therapie beitragen?

Stoll: Ja, denn jede Erweiterung des bisherigen Indikationsbereichs würde erwarten lassen, dass die Anzahl an Verschreibungen steigt.

Die genannte Zielgruppe ist dafür besonders relevant, denn Studien weisen dort auf eine besonders hohe Patientenpräferenz für die Injectables hin.

Zudem besteht für die Injectables im Falle von Nonadhärenz bisher eine mögliche Sorge der behandelnden Ärzt*innen um eine potenziell justizable Mitverantwortung im Falle eines Therapieversagens. Für das bisherige Long-acting ART Konzept ist die ärztliche Mitverantwortung – im Falle eines Rechtsstreits – gleich in mehrfacher Hinsicht höher als für eine konventionelle ART: (1) Die Therapie ist nicht zur Ersttherapie zugelassen sondern sowohl an die vollständige Virussuppression durch eine Vorbehandlung gekoppelt als auch an das Fehlen von Resistenzen gegen jede der eingesetzten Substanzen. (2) Die Einhaltung der vorgegebenen Zeitfenster für jede – nur in der Arztpraxis erhältliche – Injektion wird ärztlicherseits exakt protokolliert, somit also „wissen“ die Ärzt*innen auch von jeder einzelnen Nonadhärenz. Gerade dieser letzte Punkt kann bisher eine beträchtliche Hürde für die Verordnung von LA in der Zielgruppe darstellen, welches durch die genannten Studien und erst Recht bei entsprechender Erweiterung des Indikationsbereichs weitgehend entfallen würde.

Zusammenfassend ergeben sich aus unserer Datenanalyse zu den Injectables somit einige weitergehende Fragen aber auch Hinweise darauf mögliche Zugangsbarrieren genauer zu identifizieren, um diese künftig besser überwinden zu können.

Vielen Dank für das Gespräch

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